Heinz Bude, 2005 Eine Partei für die Lust an der Komplexität, für die Chancen der Freiheit und den Charme der Selbständigkeit hat in Deutschland so lange keine Chance, wie sie den Appell an die soziale Gerechtigkeit vergisst. Der Liberalismus als Vorlage für eine Idee des guten Lebens ist im deutschen Denken nie heimisch geworden. Das ist und bleibt das Schicksal der FDP, die als wirtschaftsliberale Partei selbst in der glorreichen Periode einer „Neuen Ökonomie“ anders als in Großbritannien oder in den Niederlanden, anders aber auch als in Polen oder in der Tschechischen Republik immer eine kleine, manchmal feine, manchmal weniger feine Partei geblieben ist. Wahlen werden in Deutschland nicht mit mehr Freiheit, sondern mit dem Versprechen sozialer Gerechtigkeit gewonnen. Das wird auch 2006 so sein.
Das gilt erst recht für die Grünen. Die sind zwar hauptsächlich eine Partei der Frauen, der Gutgebildeten und Besserverdienenden, aber nicht eine Partei von deren Freiheitsbedürfnissen und Expansionsgelüsten. Sie sind eine Partei der moralischen Sensibilität von netten, toleranten, wohlhabenden und geborgenen Leuten in der Mitte unserer Gesellschaft, die, wie der amerikanische Gerechtigkeitstheoretiker Richard Rorty meint, die Garanten unserer westlichen Kultur der moralischen Empfindsamkeiten bilden. Die Frage nach der Zukunft der sozialen Gerechtigkeit betrifft deshalb den Kern des grünen Projekts und seiner Akzeptanz beim Wahlvolk.
Die drei Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit
Soziale Gerechtigkeit– was wollen wir darunter verstehen? Bekannt sind die drei Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit: die Leistungs-, die Verteilungs- und die Bedarfsgerechtigkeit. Mit Leistungsgerechtigkeit ist gemeint, dass es gerecht ist, nicht als Parasit seiner Herkunft, sondern durch eigene Anstrengung und Leistung zu dem zu werden, was man ist. In diesem Sinne sind wir alle Anhänger der Leistungsgerechtigkeit. Gerecht sind soziale Verhältnisse aber nur dann, wenn sie den Abstand zwischen den vielen, denen es einigermaßen gut geht, und den wenigen, die viel haben, nicht zu groß werden lässt. Die Sozialpolitik soll „soziale Schieflagen“ vermeiden und die „Schere“ zwischen Armen und Reichen ausgleichen. Dann ist dem Gebot der Verteilungsgerechtigkeit Genüge getan. Mit Bedarfsgerechtigkeit ist allerdings noch etwas Drittes gemeint: Gerecht ist eine Welt nur dann, wenn sie auch denjenigen Anrechte verleiht, die vom Schicksal geschlagen sind und nicht für sich selbst aufkommen können. Für diese hat die Allgemeinheit einzustehen, auch dann, wenn sie das etwas kostet, was dann für andere Annehmlichkeiten fehlt. Ohne diese grundlegende Garantie der Teilhabe für alle kann man sich keine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit vorstellen.
In der Bundesrepublik haben wir lange von der Dominanz der Verteilungsgerechtigkeit gelebt, was die Erträglichkeit gezeigter und wahrgenommener Ungleichheit betrifft. Aber es hat immer auch einen schwelenden Bedarf an Leistungsgerechtigkeit gegeben, der immer dann deutlich wurde, wenn es um Steuererleichterungen und Sondervergütungen ging. Bedarfsgerechtigkeit war für den Fall der klassischen industriegesellschaftlichen Risiken von Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Alter vorgesehen. Wer unverantwortet oder unvermeidlich in eine solche Lage geraten ist, den hat die Allgemeinheit so mit Mitteln zu versorgen, dass seine soziale Teilhabe sichergestellt ist. Arbeitslosigkeit soll nicht mit einem sozialen Absturz, Arbeitsunfähigkeit nicht mit Aussonderung und vor allem Alter nicht mit Armut verbunden sein. Das war und das ist heute noch Konsens in unserer Gesellschaft.
Schockbotschaft Hartz IV: Exklusionsvermeidung statt Statuserhalt
Allerdings hat sich in der Ausdeutung dieses inzwischen Struktur gewordenen Krisenfalls und der auf ihn bezogenen sozialen Rechte eine dramatische Veränderung ergeben. Das Signal dafür ist Hartz IV und die daran geknüpfte schocktherapeutische Botschaft lautet: Nicht mehr dem Statuserhalt gilt die Verantwortung der Allgemeinheit im Fall von Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit, sondern der Exklusionsvermeidung. Die Sozialpolitik soll jetzt dafür Sorge tragen, dass die Leute nicht aus der Gesellschaft herausfallen, und nicht mehr, dass sie ihre einmal erreichte soziale Position behalten können. Damit ist das Exklusionsphänomen zum Bezugspunkt für die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit geworden.
Was ist mit Exklusion gemeint? Bei Exklusionsprozessen sind immer vier Aspekte im Spiel: Arbeit, Familie, Institution und Körper. Selbstverständlich ist Arbeitslosigkeit ein entscheidender Grund für die Erfahrung von sozialem Ausschluss. Aber der Verlust des Arbeitsplatzes muss nicht zu sozialer Exklusion führen. Erst wenn sich zu der Erfahrung, dass der Wiedereintritt ins Beschäftigungssystem nicht gelingt, die Erfahrung gesellt, dass man sich auf seine sozialen Netzwerke in Familie, Freundschaft und Bekanntenkreis nicht verlassen kann, kann ein Prozess der Entkoppelung von den Anerkennungszusammenhängen der Gesellschaft in Gang kommen. Aber das muss nicht unbedingt so sein. Es gibt auch immer die Möglichkeit der Kompensation: Man verliert die Arbeit und dadurch erneuert sich die Familie. Das ist der Ausgangspunkt für die vielfältigen Formen informeller Ökonomien in unserer Gesellschaft.
Wenn freilich durch Arbeitslosigkeit die Netzwerkarmut offensichtlich wird, und man schließlich noch das Gefühl hat, dass die Institutionen der sozialen Sicherung sowieso nur für die anderen da sind, dann muss man von einem Zustand sozialer Verwundbarkeit sprechen. Dabei stellt sich die Frage, ob man noch dazugehört oder schon zu den Überflüssigen zählt. Und wenn einem schließlich noch der Körper in Form einer Drogenabhängigkeit oder anderer irreparabler Defekte in die Quere kommt, ist ein Weg ins soziale Aus sehr wahrscheinlich.
Die von Ängsten beherrschte Mitte der Gesellschaft
Der Begriff der Exklusion wartet nun mit der erschreckenden Erkenntnis auf, dass solche Prozesse nicht mehr auf den Rand der Gesellschaft beschränkt sind. In der Mitte unserer Gesellschaft breitet sich ein Gefühl von Unsicherheit aus, von dem auch Gruppen berührt sind, die von ihrer Ausstattung mit materiellen Rücklagen, sozialen Beziehungen und Bildungspatenten eigentlich nichts zu befürchten haben. Trotzdem spürt man in sich Anflüge von Angst, durch unvorhersehbare Lebensereignisse in eine Situation der Exklusion zu geraten. Davon können heute manche 30-Jährigen ein Lied singen, die sich in den 90er-Jahren in die neuen Berufe der Wissensindustrien aufgemacht haben und jetzt die Botschaft bekommen, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Sie fragen sich: Was haben wir falsch gemacht? Wer ist daran schuld? Wieso konnten die Verhältnisse so plötzlich umstürzen?
Diese generalisierte Unsicherheit steckt hinter der Veränderung der moralischen Sensibilität der Mittelklassen. Das kann sich einerseits in unangenehmen Formen von „Statuspanik“ Ausdruck verschaffen, es kann aber auch die Möglichkeit einer neuen und anderen Aufmerksamkeit für die Nöte anderer mit sich bringen. Das Elend der Welt betrifft nicht allein die anderen, man kann auch selbst davon betroffen sein. Deshalb braucht es einen positiven Begriff von Verpflichtung fürs Allgemeine, die sowohl die nach wie vor gefährdeten Ränder als auch die von Ängsten beherrschte Mitte mit einbezieht. Es ist immer leicht, Gerechtigkeit für andere zu fordern, schwieriger ist es, sich selbst diesem Anspruch zu unterstellen, weil man auch ein Opfer von ungerechten Verhältnissen sein könnte. Ein in diesem Sinne positiver Begriff sozialer Gerechtigkeit beinhaltet drei Elemente: Er impliziert erstens die Überzeugung von der Unverzichtbarkeit jedes Einzelnen. Und zwar nicht nur, weil wir einen Blick für das Leiden anderer haben, sondern weil wir durch eine unvorhersehbare Verkettung von Umständen selbst zu denen gehören könnten, die auf die Unterstützung durch die Gemeinschaft aller angewiesen sind.
Respekt ist die Unterstellung von Gleichrangigkeit
Ein starker Begriff von sozialer Gerechtigkeit enthält zweitens den Glauben daran, dass sich jeder selbst wieder aufrichten kann. Es ist das unbedingte Ziel aller institutionellen Förderungs- und staatlichen Kompensationsmaßnahmen, dass der oder die Einzelne Herr oder Frau über das eigene Leben werden kann. Nicht herablassendes Mitleid ist gefordert, sondern tätiges Mitgefühl für den anderen, der seine Forderungen an uns stellt.
Aber ein positiver und für eine Mehrheit attraktiver Begriff von sozialer Gerechtigkeit muss auch die Verpflichtung aussprechen, dass keiner das Recht hat, auf Kosten der anderen zu leben. Wer herauszufallen droht, dem muss man helfen, weil wir alle brauchen, und nicht weil wir uns mit sozialpolitischen Maßnahmen ein Problem vom Halse schaffen wollen.
Damit formuliert sich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in einem Begriff des Respekts. Respekt meint eine Haltung der Achtung, der den bedürftigen Anderen als Teil der Allgemeinheit ansieht, die er in Anspruch nehmen muss. Darin liegt ein Vorgriff auf eine Gegenseitigkeit, die im Moment nicht hergestellt ist, weil trotz des prinzipiellen Rechts auf Teilhabe eine Asymmetrie zwischen der alimentierenden Allgemeinheit und dem alimentierten Einzelnen besteht. Respekt hält die Augenhöhe, damit nicht zum Bittsteller werden muss, wer in Abhängigkeit geraten ist. Das kann, wie im Fall von jungen Erwachsenen, denen nur ein bestimmtes Budget an Unterstützung gewährt wird, durchaus mit einer dosierten Überforderung einhergehen. Respekt ist die Unterstellung von Gleichrangigkeit. Insofern beruht eine Politik des Respekts auf der Erwartung einer Wechselseitigkeit der Verpflichtungen, dem Glauben an die Wiederaufrichtbarkeit jedes Einzelnen und der Überzeugung von der Gemeinschaftlichkeit der Verantwortung.
Heinz Bude war von 2000 bis 2023 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. 2020 wurde er zum Gründungsdirektor des documenta Instituts berufen. Er lebt in Berlin. 2025 erschien sein zweiter Roman „Transit 64“ gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland.